Nikolai stand noch eine Weile im Administrationsgebäude. Er verfolgte Tolja über die Kameras.
Wie gerne würde er mit ihm gehen. Night City direkt kennenlernen….wenigstens durfte er öfter das Intranet verlassen. Zuerst wollte die Kraftwerksleitung ihm auch dies verbieten, nur war er ebenfalls davon abhängig, die Daten mit anderen SovOil/Energekon Kraftwerken abzugleichen.
Nikolai hatte gelernt die Stimmungen an den Bewegungen abzulesen und Tolya schien grade geladen zu sein. Er stapfte durch den Schnee. Der Schnee blieb nicht auf seinen Schuhen hängen und wurde durch seine schweren Schritte aufgewirbelt.
Nikolai verließ die reale Welt und schaute in den virtuellen Unterlagen nach. Sie breiteten sich vor ihm in Form von Dateikästen aus.
Er sah den Ablageort und schaute in die Ausreiseanträge, aber er fand Toljas Namen nicht.
Dann könnte er wohl doch nicht gehen heute.
Nikolai schaltete sich wieder auf die Kameras. Mittlerweile betrat Tolya den Ausgang „Reaktom“, auch Ausgang R genannt.
Dieser wird größtenteils von den Arbeitern genutzt, wenn sie denn raus mussten, hier war die Abwicklung meistens schnell, da es auch nicht oft vorkam. Lieferanten nutzten den Ausgang V.I. 2.
Nikolai erkannte ein Lodern in Tolyas Augen. Er schien kurz vor einem Wutausbruch. Er hatte ohnehin schlechte Laune, weil die „Idioten auf der Warte“ nicht seine Erwartungen erfüllt haben. Deshalb wollte er heute also einen heben gehen, erinnerte sich Nikolai. Es war nun besser zu schweigen….und nicht mit ihm zu diskutieren…nur wenn kein Ausreiseantrag vorliegt, würde er nicht raus können. Nikolai seufzte.
Tolya war nun angekommen. „Öffnen!“ blaffte er den Wächter an. „Mitarbeiternummer?“ erwiderte dieser gelangweilt. Tolya verdrehte die Augen. „551818 Djatlov, Tolya. Und jetzt mach hin!“.
Der Wachmann rief ein Hologramm auf und tippte dort die Daten ein. „Tut mir leid, Genosse Chefingenieur aber mir liegt keine Genehmigung für eine Ausreise vor. Ich kann Sie nicht raus lassen.“
Tolyas Augen verfinsterten sich. Sie wurden zu schmalen Schlitzen.
Gefährlich ruhig erwiderte er: „Nun hören Sie mal zu, mein Guter. Ich habe unser Land schon verteidigt, da hast du noch nicht mal in die Porzen geschissen. Mach das verdammte Tor auf!“
Nikolai schlug die Hände vor den Mund. Dies würde gleich eskalieren. Was würde wohl passieren? Gebannt sah er weiter zu, währenddessen ließ er sich den Weg zum Ausgang R zeigen und merkte kaum, dass sein Körper sich auf den Weg machte, ja er rannte.
Der Wachmann lehnte sich zurück. „Tut mir leid Genosse. Kein genehmigter Ausreiseantrag, keine Ausreise.“
Etwas in Tolyas Normalität riss. Sein Trauma ergriff Besitz von ihm. Plötzlich zog er eine Waffe. „Nur weil ihr euch von einem 20jährigen, tschechischen Schönling rumkommandieren lasst, heisst das nicht das ich das tue. Ich habe schon genug Idioten und Willkür überlebt. Du machst das verdammte Tor auf.“
Panisch löste der Wachmann einen Alarm aus. Nikolai übernahm die Kontrolle über die Turrents und blockte den Alarm. Er wollte Tolya nicht verlieren.
Er betrat den Ausgangsbereich. „Genossen.“ Hörten beide in ihren Köpfen. Respektvoll stand der Wachmann auf. „Genosse Chefnetrunner.“ Grüßte er. Tolya hielt immer noch die Waffe auf den Wachmann gerichtet. „Es gab ein kleines Problem mit dem Ausreiseantrag für 551818. Es wurde versäumt den Antrag weiterzuleiten. Ich habe ihn hier vorliegen.“ Mit diesen Worten übersendete Nikolai dem Wachmann den genehmigten Antrag.
„Stecken Sie die Waffe weg. Es besteht kein Grund.“ sendete er zu Tolya. Und nur auf dem privaten Weg sagte Nikolai. „Bitte, Sie müssen nächstes mal einen Antrag stellen….oder sich zumindest an mich wenden.“
Nikolai wusste, dass der Direktor es überhaupt nicht gerne sah, wenn die Arbeiter das Kraftwerk verließen. Es gab hier sowjetische Läden, ein Cafe, eine Kantine, ein Restaurant…also sah er keine Notwendigkeit, dass seine Arbeiter die kapitalistische Welt unterstützten. Dennoch ging gerne der ein oder andere raus und der Direktor konnte es nicht immer verbieten, denn was verboten war wurde interessant.
Nikolai legte seine Metallhand lauter als nötig auf dem Schreibtisch des Wachmannes ab und sendete betont. „Ich denke Sie können über diesen kleinen Zwischenfall hinweg sehen. Der Genosse ist älter und hat lange in einer ländlichen, sibirischen Gegend gelebt und schreckliches erlebt… Wir sollten Verständnis zeigen, denken Sie nicht?“ Er ließ sein künstliches Auge gefährlich aufblitzen. „Keine offizielle Meldung, verstanden?“
Der Wachmann wich zurück. Nikolai war wirklich unheimlich. Er sprach fast nie, plötzlich hörte man seine Stimme. *Wer weiß, was er mit mir und meinen Implantaten anstellen kann.
„Natürlich, Genosse Chefnetrunner.“
„Vielen Dank, Sie sparen uns und SovOil damit viel Arbeit. Ich werde dem Genossen Chefingenieur nochmal erklären, dass er sich ordnungsgemäß abmeldet.“
Tolyas Herzschlag, den Nikolai auf seinem HUB sehen konnte, hatte sich beruhigt, Tolyas Atmung war ebenfalls normal für einen Mann mit seinem Zigarettenkonsum und er hatte seine Waffe eingesteckt. Nikolai lächelte leicht….und sendete an Tolya „Passen Sie auf sich auf…und seien Sie zu Schichtbeginn bitte unbedingt wieder da.“
*nicht das der Direktor es noch merkt…normalerweise muß er alle Ausreisen genehmigen, außer regelmäßige….aber welche waren regelmäßig? Ämtergänge vielleicht, aber vieles machte er persönlich
Tolya lächelte ihn an. „Danke!“ er küsste Nikolai auf die Stirn. Nikolai drohten die Sinne zu schwinden. Er musste sich kurz an die Wand lehnen, bis sein künstliches Herz wieder im Takt schlug.
Nikolai übernahm wieder die volle Kontrolle über seinen Körper. Zum Wachmann gewandt sprach er: „Für Ihre Kooperation lasse ich Ihnen gleich ein kleines Geschenk bringen.“ Nikolai orderte eine seiner Drohnen mit einer Flasche billigen, aber starken, Vodka. Spätestens nach Schichtende, würde er mit seinen Freunden was trinken….sollte ihm doch etwas rausrutschen, würde es leicht sein, das auf den Alkoholkonsum zu schieben.
Es war nicht schwierig, den Antrag zu genehmigen. Dennoch würde Nikolai riesige Probleme bekommen, wenn es heraus kommt, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering. Der Direktor war viel zu faul, jeden einzelnen Antrag zu kontrollieren….Nikolai würde ihn falsch ablegen. Wo sah der Direktor am wenigsten nach? Die Inventurunterlagen, das Lager für Reparaturen. Das meiste sind nur Unterlagen über irgendwelche Kleinteile.
Der falsche Antrag leuchtete gelb. Das NERVT. Mist! Wenn Nikolai in einfärben würde, würde der Hack jedem normalen Netrunner auffallen…WENN man ihn findet.
Natürlich war auch grade einer der anderen Netrunner dort beschäftigt. „Leonid? Kannst du bitte mal bei Reaktorblock 7 schauen? Da gabs ein paar Bugs. Die konnten manchmal die holograpischen Bildschirme nicht bedienen.“
„Oh, hallo Nikolai. Ja natürlich, ich gehe sofort.“
„Danke dir.“
Die Datenstruktur des anderen Netrunners verschwand.
Jetzt nutzte Nikolai seine Fähigkeit. Er zerlegte den Antrag in jedes einzelne seiner Pixel, sah nur noch 1 und 0. Die Farbe ändern, Ausreise = Inventur 29465 zugewiesen, nur dieses Mal…..
*ich brauche den Antrag ja nur, falls der Direktor aufwacht und irgendwas von Tolya will….ich werde ihn sofort löschen, wenn Tolya zurück ist
Nikolai seufzte tief.
*warum mache ich das nur? Es könnte mich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Herz vor Verstand….ich wäre so gerne mitgegangen…aber das wäre aufgefallen…..eigentlich möchte ich ja auch nicht das Tolya geht….nur was hätte ich machen sollen?
Er vergaß ebenfalls nicht, die Videoaufnahmen zu ändern. Das war einfacher. Schließlich war er kein normaler Runner sondern ein Technomancer. In der hiesigen Amtssprache nannte man das. Друг машины = Maschinenfreund.
Es fühlte sich gut an dem Wachmann Befehle zu geben. Nikolai nahm sich vor, sich nicht mehr rumschubsen zu lassen..schließlich war er in der Hierarchie der zweite Mann im Kraftwerk. Zumindest was administrative Aufgaben betraf. Die sollen ruhig Respekt vor ihm haben und auch als normaler Runner konnte er ihnen schaden. Nur der Direktor wusste, was er wirklich war. Nur deshalb hatte seine Familie die ganzen medizinischen Implantate bezahlt, sodass er sich bewegen konnte. Es war irgendwie immer noch nicht klar, ob er selbst als Maschine gesehen wird…oder noch als Mensch. Er hatte einen Ausweis, aber gleichzeitig auch eine Inventarnummer, wie die einzelnen Reaktorbestandteile.
Nikolai sah einen der Techniker über den Hof gehen. Es war einer von denen, die ihn öfters auslachten. Nikolai konzentrierte sich um mit seiner Technomancerfähigkeit eine Verbindung herzustellen. So eine Standartfirewall war für ihn einfach zu umgehen. scannte seine Implantate. Nikolai entschied sich für eine Störung, die starke Kopfschmerzen hervorrief. Einfach den Widerstand und auch die Widerstände, die dann einspringen lahmlegen. Der Techniker schrie auf, fasste sich an den Kopf, war verwirrt und wusste nicht mehr wirklich wo er hin sollte.
Er brach zusammen. Rotes Blut lief aus seinem Ohr. Nikolai trat näher, betrachtete eine Weile, wie das Blut den Schnee rot färbte. Rot wie die Lippen von dem Schneemädchen in seinem Märchenbuch. Es sah so schön aus.
Nach einer Weile sendete er an den medizinischen Dienst. „Es gab ein kleines Problem mit den Implantaten des Genossen. 5964784. Ich vermute ein kleiner Bug mit der Energieversorgung. Ich sende Ihnen den Aufenthaltsort.Kümmern Sie sich um ihn.“
„Na wenigstens kein Strahlenunfall. Wir sind sofort da.“
Befehle geben machte wirklich Spaß.
Nikolais Gesicht blieb ausdruckslos und doch bildete sich ein Lächeln um seine Lippen. Die sollen es noch einmal wagen….dachte er während der medizinische Dienst angelaufen kam.
Er wandte sich ab. Die Befehle, die der Arzt den Sanitätern gab, verschmolzen mit dem eiskalten Wind.
Er sah hinauf zu den großen Kühltürmen, die rauchten, hörte das bekannte leise Summen. Es schneite stärker und war bitterkalt.