Neo Idol - Consultatio


  • Bild: Dark Cyber Chronicles: Neon Idol

    CONSULTATIO

    Der Geruch von Verwesung war nicht mehr zu leugnen, das war ihm schon seit Tagen bewusst. In seinem Apartment gewann der süßliche Geruch immer mehr die Oberhand. Wenn es ganz unerträglich wurde, schnappte er auf der Aussenplattform frische Luft. In diesem Moloch von Stadt ist die Luft durchsetzt von Mondstaub, aber er atmete sie tief in sich ein, als wäre er der Entdecker eines Hochgebirges. Er beobachtete die Avoins (fliegende Autos), die an seinem Wohnblock vorbeirasen wie Lichtpfeile, starrte in die Häuserschluchten und wünschte sich, seine Mutter würde noch leben. In der letzten Zeit dachte er immer öfter an sie.
    Wenn er seinen massiven Körper aufraffte und sein Apartment berat, drang der Geruch erbarmungslos in seine Nase und ihm stockte der Atmen. Die Übelkeit ergriff seinen Magen, er kämpfte gegen den Brechdrang und hielt den Atem an. Obwohl er wusste, dass er atmen musste, hielt er solange den Atmen an, bis seine Lungen nach Luft kämpften und er dem nachgeben musste. Hätte er gewusst, dass sich alles so entwickelt, hätte er sich doch lieber überwunden und sie und ihn stückweise entsorgt.


    Er und sie, so hießen sie für ihn. Er kannte den Namen der Frau, aber nicht den des Mannes, doch er sah sie nur noch als das "Problem" an. Sein Problem.
    Er starb als erstes - Er hatte einfach nur Pech. Volken Industries gewährte jedem Apartment nur die von der Regierung vorgegebenen Energieeinheiten. Aber sein Projekt benötigte das 80fache an Stromversorgung, was sein Apartment zulässt. Die letzten Wochen hatte er angefangen, den Strom von den anderen Apartments zu ziehen. Die Welt war voller Kabel, die in und aus Gebäuden drangen und ganze Häuserschluchten einnahmen. In den Hausfluren musste man über duzende Kabel steigen, bevor man seine Wohneinheit erreichen konnte. Er war sich sicher, dass ein paar neue Kabel niemand bemerken würde.
    Vor zwei Wochen klingelte es an der Tür. Erst hatte er gedacht, seine Vermieterin habe wieder gemerkt, dass die Miete nicht bezahlt war. Er aktivierte den Tür-Bildschirm und war erleichtert als er sah, dass es ein Mann war. Die alte Schnalle konnte immer so lästig sein.
    Bei näheren Hinsehen, bemerkte er, dass der Mann einen Overall trug und das V Logo von Volken Industries drauf zu sehen war. Der Mann sah in die Kamera, als wüsste er, dass er beobachtet wurde und hob ein Kabel hoch.
      Können Sie mir sagen, was das soll, fragte er und hielt das Kabel höher zur Kamera.
    Der Mann war seinen verlegten Kabeln wie einer Brotkrumenspur gefolgt, schoss es ihm durch den Kopf. Er ärgerte sich über sich selbst. Anfangs hatte er die Kabel noch in die bereits vorhanden Kabel gewickelt, damit niemand sie bemerkte. Je öfter er nachts in die Dunkelheit des Blocks tappen musste, desto weniger legte er Wert darauf, sie zu verbergen.
    Hallo, ertönte es aus dem Lautsprecher, machen Sie auf!

    Panisch blickte er sich in seinem Apartment um. Er konnte jetzt nicht aufgeben, sein Projekt war noch nicht fertig. Heute Nacht wollte er mehr Strom abgreifen... Alles war vorbereitet.
      Machen Sie auf oder ich komme mit den Cops retour!
    Seine Stimme klang, als würde ihm das Vergnügen bereiten. Das Kabel hielt er weiterhin triumphierend in die Kamera, als hätte er eine Schlange erlegt.
    Er schloss die Augen und zitterte am ganzen Körper.
       Ok, ich gehe jetzt, zischte es aus dem Sprecher.
    Er öffnete die Augen, Schweißperlen liefen ihm über sein fülliges Gesicht. Seine Augen füllten sich langsam mit Tränen, doch er kämpfte dagegen an.
    Als er den Tür-Knopf drückte, ging die Tür zischend auf und er stand dem Mann direkt gegenüber. Der Mann starrte ihn ungläubig an. Er überragte den Mann um fast zwei Köpfe. Sein massiver Körper konnte furchterregend sein, das wusste er. Der Mann trat kaum merklich einen Schritt zurück.
    Vielleicht bereut er jetzt schon seine Entdeckung, hörte er eine gehässige Stimme tief in sich drin wispern.
       Wie kann ich Ihnen helfen, fragte er so freundlich und nichtsahnend wie er konnte.
    Der Mann musterte ihn fragend als wäre er sich nicht sicher, ob er nicht lieber das Thema wechseln sollte. Er wusste, dass sein Anblick viele abstößt - sein massiver Körper war oft verspottet worden, aber er war auch angsteinflößend.
    Der Mann zeigte auf das Kabel und setzte an, seine Erkenntnis mittzuteilen.
    Mister, hier sind etwa 300 Meter Kabel verlegt, die alle zu Ihrem Apartment führen. Ich habe die Kabel von dort verfolgt...., berichtete der Mann, drehte sich nach hinten und zeigte mit dem Finger in die Richtung des Generators, als wäre es die Entdeckung des Jahres.
    Trotz seiner Körpermasse schnellte er nach vorne - diese Gelegenheit, wenn es überhaupt eine war, musste er nutzen. Er schlang seinen rechten Arm um den Hals des Mannes, hob ihn dabei ruckartig vom Boden. Seine Füsse baumelten in der Luft und erreichten den Boden nicht.
    Der Mann schlug um sich und hielt dabei immer das Kabel in der Hand als würde es mehr bewirken, wenn er sich daran festhielt. Ein Laut kam aus dessen Mund, er konnte ihn nicht verstehen. Er wusste nicht, ob der Mann geschrien oder etwas gerufen hatte. Der Mann ließ das Kabel fallen und wandt sich in seinem Arm. Er spürte die Kehle des Mannes in seinem Ellenbogen und verstärkte den Druck. Sein Kopf war ganz nah an dem des Mannes, er spürte die Haare des Mannes an seinen Kinn und nahm einen Geruch von Schweiß und Zigarettenrauch wahr. Für einen Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, welche Zigarettenmarke er wohl raucht.
    Er drückte fester, fühlte die Hände des Mannes an seinen Arm schlagen und kratzen, des Mannes Körper wand sich. Doch er spürte, dass dem Mann die Kraft fehlte sich gegen ihn zu wehren. Mit seiner linken fleischigen Hand drückte er dem Mann den Mund und die Nase zu. Jetzt kämpften des Mannes Hände beide darum die Hand vom Mund zu befreien. Er fühlte wie sich der kleine Kiefer in seiner Hand bewegte.
    Er schloss die Augen, verstärkte den Druck. Er hat keine Erinnerung daran, wie lange es ging, aber irgendwann hing der Mann leblos in seinem Arm. Als er seine Augen öffnete, kam es ihm so vor als wäre der Flur lichtdurchflutet, anstatt das dunkle, modrige Gewölbe, dass es eigentlich war.

    Den Mann weiterhin mit dem Arm haltend, ging er zurück in das Apartment und schloss die Tür. Zischend schloss sie sich, als wäre nichts gewesen. Behutsam legte er ihn auf den Boden, vermied, dass er einen Blick in sein Gesicht warf. In diesem Moment merkte er den Schmerz in seiner Brust, sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Sein Arm war fast taub, aber er spürte die Schläge und die Kratzer, die er davon getragen hatte. Sein Körper fühlte sich schwer an, als würde die Schwerkraft ihn auf den Boden ziehen. Neben dem Mann stützte er sich mit der Hand ab und ging zu Boden. Den Blick fixierte er auf die leblose Brust des Mannes.
    Sein Köper sackte in sich zusammen und er legte sich schwerfällig mit dem Rücken auf den Boden. Er starrte zur Decke und schloss die Augen.

    Nicht mehr lange, hörte er eine Stimme in seinem Kopf sagen. Es klang fast tröstlich.
    Ja, dachte er sich, nur noch wenige Wochen und diese Welt wird nicht mehr sein.
    Er driftete vor Erschöpfung in einen leeren Schlaf und versank im Nichts.

    ENDE TEIL 1

  • Während er die erloschenen Duftkerzen gegen neue austauschte und anzündete, schob er den Gedanken an ihn, den Mann, zur Seite. Wie in einem Mantra zwang er sich, nicht mehr an ihn zu denken. Scham kam bei den Gedanken an diesen Moment der Zerstörung eines Menschenlebens auf. Zwar würde diese Welt bald nicht mehr existieren, aber er hatte nicht die Absicht, jemand körperlich zu verletzten. Sie alle würden einfach aufhören zu existieren, erlöst von all ihren Hoffnungen, Ängsten und Schmerzen.
    Er selbst war unter kalter Gewalt aufgewachsen und hatte geschworen, keinem körperlich zu schaden.
    Er hielt bei den Gedanken kurz inne und blickte in Richtung Wohnzimmer. Eine unförmige Masse, die er mit einem Tuch abgedeckt hatte, lag anklagend auf dem Boden. Mittlerweile hatte er dutzende Duftbäume darauf gelegt - obwohl sie als letztes gestorben ist, stank sie am meisten. Dessen war er sich ganz sicher.
    SIE hatte es verdient, schoss es ihm durch dem Kopf. SIE war seine Vermieterin und nun war sie höchstens noch ein Tuch mit bunten Duftbäumen drauf. Schon bevor er für das Projekt auserwählt wurde, hatte sie ihm das Leben in diesem Block schwer gemacht. Wenn er an ihrer Apartmenttüre vorbei ging, riss sie oft plötzlich, wie in einem schlechten Film, die Türe auf und wies ihn zurecht, drohte ihm mit Rauswurf, wenn die Miete nicht pünktlicher eintreffen würde oder stellte neugierige Fragen über die Gerätschaften, die er immer wieder in das Apartment trug.
    Tief nachts schlich er schweißgebadet durch die Gänge, jederzeit bereit, die Kabel, die er verlegen wollte, auch anders einzusetzen. Obwohl sie alt, klein und keine 40 Kilo wog, fürchtete er sie.
       Die alte Schnalle hätte ihr Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken sollen, sagte er sich trotzig. Bei dem Gedanken musste er lächeln. Ihre Nase, dachte er und lachte kurz.

    Sie klingelte wenige Tage nach dem Vorfall. Er selbst hatte den Geruch nicht gemerkt, den der Mann langsam verbreitete. Die erste Zeit verbrachte er in ständiger Angst, dass irgendwer nach dem Mann suchen würde, aber nach Tagen legte sich die Spannung und er ging seinem Tagewerk nach. Er war zu beschäftigt mit seinem Projekt, seiner Mission. Vielleicht hatte er den süßlichen Gestank einfach nur verdrängt. Er wusste es nicht mehr.
    Aber IHR war der Geruch nicht entgangen. Er erblickte sie auf dem Monitor, wie sie in Richtung seiner Türe starrte wie ein alter Köter, der zeigt, dass er in den Garten möchte. Sie würde so nicht ewig verweilen - sie hatte für alle Wohnungen eine Key-Karte, das wusste er. Sie würde sie benutzen, wenn er nicht öffnen würde. Er überlegte, welches Datum heute war. Der 18te!
       Die Miete konnte es nicht sein, murmelte er vor sich hin.
    Während er auf dem Sprechknopf drückte, hatte er schon über ihr Schicksal entschieden.
    Ein hallo kam aus seinen Mund gekrochen. Ihm war klar, dass seine Stimme dünn und flattrig klang.
    Sie starrte immer noch ungerührt auf die Türe. Er stockte kurz.
       Hallo, diesmal schwang ein verärgerter Unterton in seiner Stimme mit.
    Er stöhnte verzweifelt und wusste, dass sie ihr Hörgeräte wieder vergessen hatte.

    Ende Teil 2